inter
view
view

Jochem Reichenberg x Alberto
immer vorwärts,
nie zurück!
Von der selbstgebauten Seifenkiste zu preisgekrönten Designmöbeln und Ausstellungen mit Dieter Rams und Philippe Starck ist es gar kein so weiter Weg. Zumindest nicht, wenn man wie Jochem Reichenberg Handwerkersmeister mit Leib und Seele ist. Wir sprachen mit dem 58-jährigen über die Tugend der Bodenständigkeit, über die stete Lust am Neuen, das Glück, Wissen weiterzugeben und seine fast 25jährige Zusammenarbeit mit Alberto.
Schreinerlehre mit 16, Schreinermeister mit 26 und dann der eigene Möbelbetrieb – was fasziniert dich am Handwerk und der Arbeit mit Holz?
Geprägt durch meine Familie bekam ich schon früh Bezug zum Handwerk. Mein Großvater, ein handwerkliches Multitalent, nahm mich häufig mit auf Baustellen und hat mich so an viele Gewerke herangeführt. Meine Eltern, äußerst offen und kreativ, schenkten mir mit fünf eine kleine Hobelbank. Ich konnte mich stundenlang in unseren Werkkeller zurückziehen und mit Holz arbeiten. Mein späterer Werdegang zeichnete sich also schon recht früh ab. Die ersten Schreinerarbeiten waren natürlich noch kleine zusammengenagelte Tische, aber irgendwann reichte mir das nicht mehr und ich wagte mich an gezapfte Puppenbetten und weitere Ausführungen, die immer perfekter wurden. Und dann kam die Liebe zum Auto ... - meine erste Seifenkiste aus einem Kinderwagengestell. Schnell, schön und sogar mit Beleuchtung!
Bei der Seifenkiste blieb es dann aber nicht ...
Nein. Nachdem ich als Jugendlicher eine Weile Modellbau und Fahrräder gebaut hatte, entschied ich mich, mit 16 Jahren die Schullaufbahn zu unterbrechen und eine Schreinerlehre in einer der besten Schreinereien Deutschlands zu beginnen. Die Lehre war fordernd und kein Zuckerschlecken. Ich lernte hart zu arbeiten, auch mal 14 Stunden am Tag und eine sehr breit aufgestellte handwerkliche Perfektion. Tradition und Moderne führten mich zudem an die Grundsätze guter Gestaltung heran. Dank meines Meisters durfte ich die Ausbildung als Innungs- und Kammersieger beenden. Den ersten Gestaltungswettbewerb gewann ich mit meinem Gesellenstück, einem sehr reduziert gehaltenen Schrank in Zebrano und Wenge. Danach habe ich jedes Jahr ein neues Möbel entworfen, um an weiteren Wettbewerben teilnehmen zu können und gewann mehrfach den Förderpreis Junges Handwerk. 1991, kurz nachdem ich meine Meisterprüfung abgelegt hatte, wurde mir der Staatspreis Manufactum verliehen, der wichtigste Preis, der in Deutschland an Kunsthandwerker vergeben wird. Und so machte ich mich mit den 15.000 Mark Siegerprämie im selben Jahr selbstständig und gründete, damals noch mit einem Partner, das Unternehmen Reichenberg - Weiss.
Andere Designer fangen ganz klassisch mit Stühlen, Tischen und Regalen an. Du hast dich dazu entschieden, ausgerechnet mit einer Serie minimalistisch gehaltener Außenmöbel auf den Markt zu gehen. Was war hier die besondere Herausforderung?
Schränke, Tische und Innenausbau waren damals mein täglich Brot. Dann bekam ich die Aufgabe, eine moderne Gartenbank zu entwerfen und mein Anspruch war es, etwas komplett Neues zu schaffen. Formal entwickelt aus dem Sitzanspruch und unter der Berücksichtigung, dass auf der Bank Kommunikation stattfinden können soll. Als die Bank fertig war, fehlten natürlich noch der passende Tisch, die passenden Stühle, eine Sonnenliege und ein passender Servierwagen mit Grill. So entstand nach und nach eine umfassende Außenmöbel-Kollektion. Damals war das noch weltweit unique. Durch einen Zufall wurde der Chef eines der renommiertesten Möbelhäuser Deutschlands, die Schröer KG, auf meine Entwürfe aufmerksam. Aus seiner Begeisterung heraus bot er mir an, die Möbel bei einer hochkarätig besetzten Händlertagung vorzustellen, die zum vollen Erfolg wurde.

Außenmöbel Reichenberg-Weiss, in Basalt und verzinktem Stahlgestell
Foto: Zebra Fotostudio
Mit einem Stand auf der Kölner Möbelmesse und weltweiten Anfragen kam dann der endgültige Durchbruch. Warst du darauf vorbereitet?
Nein, überhaupt nicht. Mein damaliger Geschäftspartner Volker Weiss und ich saßen auf unserem kleinen Stand und plötzlich wurde ich von den wichtigsten internationalen Fachzeitschriften interviewt. Mit dem Ergebnis, dass einige der international erfolgreichsten Möbelgroßhändler unsere Kollektion vertreiben wollten. Plötzlich hatten wir das Problem, dass wir die Nachfrage nicht mehr bedienen konnten. Zum Glück nahmen uns unserer neuen Vertriebspartner an die Hand, brachten uns das Geschäft im Möbelhandel bei und finanzierten selbst die Produktionskosten vor. Dafür bin ich ihnen noch heute sehr dankbar, denn erst so kam Reichenberg - Weiss so richtig ins Rollen. Plätze und Promenaden, Museen und Messen, die privaten Anwesen von Giorgio Armani und den Fendi-Schwestern wurden mit unseren Möbeln bespielt. Wir hatten und haben wirklich fantastische Projekte. Die erste Zeit war ich viel unterwegs und Jahr für Jahr auf zig Messen zu Gast. Dafür, dass meine damals junge Familie diese aufreibenden Jahre mitgetragen hat, kann ich ihr bis heute gar nicht genug danken. Es war aber auch eine Geschwindigkeit, die mir selbst an die Substanz ging. Mit 32 schließlich zeigte mir mein Körper meine Grenzen auf ...
... und dann kam es zu einer Begegnung mit Dieter Rams, einem der wichtigsten deutschen Industriedesigner des 20. Jahrhunderts ...

Transzendierter Korpus, Objektmöbel in HPL Richlite, Bundessieger „Gute Form“
Foto: Zebra Fotostudio
Ja. Er war auf der Kölner Messe unterwegs, kam auf unseren Stand, setzte sich neben mich auf unsere Bank und wir führten ein inspirierendes Gespräch. Dieter Rams meinte, dass meine Entwürfe pure Arroganz seien, nach dem Motto: „Gute Gestaltung ist keine Demokratie, sondern reine Diktatur.“ „Gut so“, sagte ich überzeugt. Die Kunst bestehe jedoch darin, eine breite Mehrheit zu begeistern, ohne sich zu prostituieren, so Rams damals. Das habe ich mir zu Herzen genommen und setze es bis heute um. Am Ende unserer Unterhaltung fragte mich Dieter Rams, ob wir Interesse daran hätte, im Rahmen einer Ausstellung im Museum Haus Lange in Krefeld unsere Tische als Präsentationsfläche für seine Objekte zur Verfügung zu stellen. Eine große Ehre!
Nicht die einzige Ausstellung, an der du beteiligt warst ...
Nein, ich habe zusammen mit Philippe Starck in den Museen für Angewandte Kunst ausgestellt, einige Entwürfe wandern immer noch durch Museen der ganzen Welt. Tatsächlich sind unsere Außenmöbel vielfach fester Bestandteil von Museen. Jedoch war es mir immer wichtig, mich dabei als Person im Hintergrund zu halten. Interviews und Fototermine mit mir habe ich grundsätzlich abgelehnt, weil ich wollte, dass allein meine Produkte im Vordergrund stehen. Rückblickend bereue ich aus marketingtechnischen Gründen manchmal diese Haltung.
Wie ging es für dich mit den Entwürfen und Konzepten für die Modeindustrie los?
Auch dies war ein glücklicher Zufall. Ich hatte mich ein wenig aus dem kaufmännischen Geschäft zurückgezogen, um mich ganz auf die Gestaltung und das Marketing zu konzentrieren. Durch befreundete Architekten, Hillekamp & Weber, lernte ich Georg Walendy, den Inhaber von ALBERTO kennen, der über eine neue Büroeinrichtung nachdachte. Wir empfahlen ihm, statt dessen ein neues gestalterisches Konzept für sein Unternehmen ins Auge zu fassen. Wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, ein sehr selbstbewusstes Auftreten (lacht). Aber Georg Walendy gab uns trotzdem eine Chance.

ALBERTO-Möbel, ALBERTO-Tisch, konzipiert 1999
Bild: Reichenberg-Weiss
Nach dem Büroumbau ließ er uns sogar ein Shopkonzept für ALBERTO entwickeln. Und so setzten wir uns in Bekleidungshäuser, beobachteten und analysierten das Einkaufsverhalten der Männer und schlussfolgerten schließlich, dass Hosen liegend und nicht hängend präsentiert werden müssten. Aufbauend darauf entstand der erfolgreiche ALBERTO-Tisch, der direkt als Prototyp gebaut und ein paar Tage später vorgestellt wurde. Die Reaktion war kritisch positiv, da andere Unternehmen viel konservativer vorgingen. Aber wir waren so von unserer Idee überzeugt, dass wir 50 Prozent mehr Umsatz garantierten oder – so unser Angebot – den Tisch kostenlos zurücknehmen würden. Letztendlich fuhren die Tische teilweise mehr als 100 Prozent mehr Umsatz ein und wurde zum Selbstläufer, so dass es nicht bei der ersten Order von 25 Stück blieb.

Auch der 2016 eröffnete ALBERTO Concept Store in Mönchengladbach trägt Jochem Reichenbergs Handschrift. Er konzipierte ihn zusammen mit ALBERTO.
Foto: Patrick Lanowy
Du hast all diese Preise gewonnen, du hattest Ausstellungen in wichtigen Museen und zu deinen Kunden zählen Rolex, Nike, Armani und Mercedes-Benz ebenso wie Königshäuser, Botschaften und Hotelketten. Wie bleibt man da bodenständig?
Das ist wahrscheinlich eine Handwerkertugend. Ich bin Schreinermeister und völlig zufrieden damit. Auch brauche ich nicht besonders viel. Mein Lieblingspullover hat Flicken auf den Ärmeln, und ich denke gar nicht daran, einen neuen zu kaufen. Was ich erreicht habe, betrachte ich mit Demut. Auch weil alle Menschen, die mich in meinem bisherigen Leben inspiriert haben, dazu beigetragen haben und die Größe hatten, sie selbst zu sein und sich nicht hinter irgendwelchen Statussymbolen zu verstecken. Mein Vater, dem in seinem Leben viele Ehrungen zuteilwurden, hat das irgendwann gut auf den Punkt gebracht. „Auszeichnungen sind Vergangenheit. Schaust du nach hinten, stolperst du.“
Würdest du dich eher als handwerksverliebter Designer oder als schöngeistiger Handwerker bezeichnen?
Unbedingt als Handwerker! Schöngeist ist aber falsch, weil ich durch und durch ein Kopfmensch bin. Erst in den letzten Jahren habe ich gelernt, Emotionen als wichtigen Teil von Gestaltung für mich zuzulassen und ab und an auch Bauchentscheidungen umzusetzen. Im künstlerischen Bereich, in dem ich auch immer wieder arbeite, fällt mir das übrigens seltsamerweise viel leichter.
Außer mit Holz arbeitest du unter anderem ja auch mit Metall und Stein. War die Kombination verschiedener Materialien den endlichen Möglichkeiten von Holz geschuldet?
Holz ist endlich, hat aber nichts damit zu tun. Meine Gedanken treiben mich dazu, bestimmte Formen und Funktionen zu hinterfragen und neu zu definieren. Das Ziel, die formalen Mittel zu beschränken, nicht in ihrer Vielfalt, sondern auf funktionelle und formelle Notwendigkeit. Die Wahl des Materials mache ich vom Produkt abhängig und durch die konstante Auseinandersetzung mit verschiedenen Stofflichkeiten lerne ich ständig hinzu, was die Arbeit für mich so spannend macht. Dabei schätze ich vor allem den Anspruch meiner Kunden und den Austausch mit Experten aus den jeweiligen Disziplinen. Ohne die Hilfe vieler toller Menschen wäre ich nicht das, was ich heute bin.
Gibt es ein Lieblingsstück, auf das du besonders stolz bist?
Nein. Sobald ich ein Stück fertig habe, ist es auch Teil der Vergangenheit. So stehe ich mir zwar oft selbst im Wege, dennoch ist diese Haltung mein Motor für Neues.

Tisch in Hochglanzweiß, Staatspreis Manufactum
Foto: Zebra Fotostudio
Du gibst dein Wissen nicht nur an die Lehrlinge in deinem eigenen Betrieb weiter, sondern bist auch Prüfungsausschussvorsitzender der Tischlerinnung und engagierst dich zudem als Lehrlingswart für die Belange des Nachwuchses. Warum ist dir die Arbeit so wichtig?
Es ist mir Verpflichtung, Ehre und Vergnügen zugleich, das Wissen, das ich von meinen Lehrmeistern beigebracht bekommen habe, an junge Menschen weiterzugeben und ihnen bei der Suche nach ihrem Weg zu helfen und das so wichtige Handwerk zu erhalten. Aus den Lehrlingen, die ich begleiten durfte, sind fast immer tolle Persönlichkeiten geworden, die zig Preise für ihre Arbeiten gewonnen haben und von denen manche heute ihren eigenen Betrieb führen. Und wir reden hier teilweise von jungen Menschen aus schwierigen familiären Verhältnissen oder von Jugendlichen ohne Schulabschluss. Solche Erfolgsgeschichten erfüllen mich mit Stolz.
Du erzähltest eben von deinem löchrigen Lieblingspullover. Wie stehst du insgesamt zum Thema Mode?
Als Kind und Jugendlicher durfte ich selbst an der Nähmaschine sitzen, habe eine liebenswerte, fantastische und kreative Mutter und Schwestern, die in dieser Branche arbeiten. Wenn man breit kreativ denkt, ist man durchaus offen für Mode. Die intensive und lange Zusammenarbeit mit ALBERTO hat mein Interesse für Bekleidung mit Sicherheit ebenfalls vertieft. 2022 feiert das Unternehmen sein 100-jähriges Bestehen, die letzten 25 Jahre durfte ich Alberto begleiten. Das prägt natürlich. Und hat mich ganz nebenbei zum überzeugten Fan der außergewöhnlichen ALBERTO-Hosenmodelle gemacht.